Dienstag: Leb wohl, Nixe

[i]Das nächste Kapitel ist wirklich lang, also holt Euch vor dem Lesen lieber eine Tasse Tee und macht es Euch gemütlich. Heute, zwei Wochen nach dieser Geschichte, kann ich kaum noch glauben, was da passiert ist. Die Erinnerung verblasst schnell. Aber meine Notizen helfen mir, das Bild wieder klar vor meine Augen zu holen. Und diese unbändige Wut, die ich empfunden habe.[/i]

Kilometer um Kilometer zieht Rosie unsere Kutsche. Bald schon sind wir durch den kleinen Sumpf über Feldwege zu einer kleinen Landstraße gekommen. Rosi stemmt sich mit ihrer Brust in ihr Geschirr, die Kutsche läuft jetzt leichter, aber dafür ist die Teerstraße unangenehm hart. Über einen Kilometer verläuft die Straße schnurgerade, bis sie hinter einem Knick auf einer Bundesstraße endet. Eigentlich müssten uns Brigitte und Steffi längst eingeholt haben, aber weder von ihnen noch von den Haflingern eine Spur.

Wir überqueren die Bundesstraße 248 und fahren auf einer holperigen Strecke in den Ferchauer Forst. Schließlich erreichen wir das Forsthaus in der Mitte des Waldes, umgeben von großzügigen Pferdeweiden. Wir telefonieren kurz mit unseren Frauen und beschließen hier unsere Mittagspause im Schatten der Bäume einzulegen. Und endlich kommen die vier, Brigitte mit Jack, Steffi mit Nixe, um die Ecke gebogen – allerdings alle vier zu Fuß. Was zum…?

„Ich ruf jetzt da an, die sollen Nixe abholen. Mit dem baumlosen Sattel ging es gar nicht, der rutscht soweit zurück, dass ich ihren Widerrist irgendwo da ganz vorne sehe.“ Steffi macht eine weitschweifende Bewegung mit der Hand. „Seid Ihr jetzt etwa die ganzen zehn Kilometer gelaufen?“ Die beiden nicken. „Das macht so keinen Sinn, wenn ich sie reite, tu‘ ich Nixe nur weh. Ich ruf den Vermieter jetzt an und dann ist Schluss.“ Steffi wirkt erleichtert, als sie das sagt. Die vergangenen zwei Tage war sie sich nicht schlüssig, aber jetzt eine klare Entscheidung getroffen zu haben, tut ihr sichtlich gut.



[b]Vorspiel: Anruf beim Reithof[/b]

Als sie ihn am Telefon hat, fragt der Besitzer nicht, was los ist, er fragt nicht, ob es Nixe gut geht, ob vielleicht irgendwas passiert ist. Er fragt nur trocken: „Willst Du ein anderes Pferd?“ Steffi will nicht. Wir sollen Nixe halt mitnehmen bis zur nächsten Station, er würde sich heute Abend kümmern, jetzt habe er zu tun.

Gut – wenn wir das machen würden, müsste einer von uns die nächsten zehn Kilometer laufen. Im Grunde genommen keine große Sache. Und wenn der Besitzer freundlich gefragt hätte, ob wir das machen könnten, hätten wir sofort zugestimmt. Aber diese völlige Ignoranz geht mir gewaltig gegen den Strich. Er behandelt uns so, als würden nicht wir ihm, sondern er uns einen Gefallen tun.

Dieses Mal rufe ich ihn an. Als er den zweiten Satz mit „Das ist ja schön, dass Ihr Euch jetzt auf die Hinterbeine stellt, aber wie stellt Ihr Euch das vor…“ beginnt, hat er endgültig jede Möglichkeit einer vernünftigen Einigung verspielt. Ich bin kein zwölfjähriges Ponymädchen mit dem er nach Belieben herumspringen kann. Ich schalte auf eisig-professionelle Höflichkeit, sein Pferd, seine Verantwortung. Und zähneknirschend sagt er zu, er werde innerhalb einer Stunde jemanden schicken.

Für uns kein Problem, wir wollen ohnehin Mittagessen kochen. Rosi bekommt einen Paddock zwischen den Bäumen und mümmelt Waldblumen, Jack und Nixe dösen am Wagen angebunden. Und wie zum Auftakt des folgenden Dramas verzieht sich der Himmel mit finsteren Wolken.



[b]Akt eins: Blondie und Lockenkopf[/b]

Es nieselt bereits, als Steffi endlich den Anruf erhält, dass „sie“ auf dem Weg seien. Von der SMS mit dem Wortlaut „Ihr müsst schon noch eine Stunde warten, wir haben schließlich auch noch echte Arbeit“ erzählt sie uns lieber nichts. Wahrscheinlich besser so, denn sonst wären wir vermutlich wesentlich unentspannter gewesen.

Nach etwa 90 Minuten kommt endlich ein Kleintransporter mit einem Pferdeanhänger an. Die enge Waldstraße macht hier eine Kurve und zielsicher parkt der Fahrer, nenne wir ihn mal Lockenkopf, genau am Scheitelpunkt dieser Kurve, dort, wo die einzige Stelle ist, an der die Straße mit glatten Kopfsteinen gepflastert ist. Der Platz ein paar Meter weiter ist groß und bietet weichen, trittsicheren Waldboden. Aber er bleibt genau da stehen. Na, er wird schon wissen, was er tut. Er trägt ja schließlich ein T-Shirt mit dem Logo des Reitstalls.

Seine Begleiterin, nennen wir sie mal Blondie, ist nicht gerade für handfeste Arbeit gekleidet (um es mal ganz vorsichtig auszudrücken). Sie grüßen kurz und wollen zuerst unseren Haflinger einpacken. „Nein, nein – es geht um sie hier…“ na gut, ein Pferd ist ja so gut wie das andere.

Brigitte hat ein schlechtes Gefühl bei der Sache und bittet mich, auf Jack aufzupassen. Sie möchte sich das Verladen lieber mal anschauen. Und tatsächlich, Jack wirft sich, kaum dass Nixe hinter der Kutsche verschwunden ist, mächtig ins Zeug und ruft nach seiner Nixe.

Die zeigt in der Zwischenzeit, warum sie als „verladeschwer“ gilt. Nixe setzt nicht einen Huf auf die Rampe des Hängers. Lockenkopf wird zusehends nervöser und das hilft nicht gerade, Nixe zu beruhigen. Schließlich steht er oben auf der Rampe mit dem Rücken zum Hänger, starrt Nixe an, schreit sie an sie solle sich bewegen und stemmt sein Gewicht in den Führstrick. Nixe macht zwar einen langen Hals, aber sie ist nicht bereit gegen ihn auf den Hänger zu gehen.

Lockenkopf probiert es also anders, versucht es erst mit Verwirrungstaktik, indem er abwechselnd Nixe einen Schritt auf dem mittlerweile vom Regen zusätzlich glatten Pflaster zurückdrängt, und wieder Richtung Hänger zieht. Nachdem auch das nicht fruchtet, läuft er mit Nixe auf den Hänger zu. Nixe bleibt einen halben Meter vor der Rampe stehen.



[b]Akt zwei: Die Nervosität nimmt zu[/b]

Als sie schon mit Besen und Gerte anfangen wollen, greift Brigitte dann doch einmal ein. Ob denn die Trennwand in der Mitte nicht mal aufgemacht werden könnte? „Nein, das geht nicht, die haben wir fest verschraubt.“ Das hatte ich nun wiederum nicht mitbekommen, aber davon später mehr.

Also bietet Brigitte an, Jack auf den Hänger zu stellen. Vielleicht fällt es Nixe dann leichter, ebenfalls in den Anhänger zu gehen. Lockenköpchen stimmt zu, noch immer auf der Rmape stehend. „Sag mal, möchtest Du nicht ein wenig Platz machen?“ Brigitte ist sichtlich irritiert, denn Lockenkopfgeht nur einen Schritt beiseite und blockiert immer noch die Hälfte der Rampe. „Naja gut“, denkt sich Brigitte, „der wird ja schon wissen was er tut, der macht das ja professionell.“ Ich bin mir nicht so ganz sicher, was Lockenkopf erwartet, dass jetzt passieren wird. Sollen die beiden Haflinger Seit‘ an Seit‘ die Rampe hinauf trappsen?

Jack ist mittlerweile sichtlich nervös. Kein Wunder, die ganze Geschichte geht nun schon zwanzig Minuten. Und mit Lockenkopf auf der Rampe ist Jack ebenfalls unwillig in den Anhänger zu steigen. Mittlerweile ist auch die Anhängerrampe feucht und glitschig, die ganze Situation völlig verfahren. Ich bitte Brigitte abzubrechen und führe Jack wieder ein wenig beiseite. Der Haflinger ist mittlerweile ziemlich mit den Nerven runter. Und was noch schlimmer ist, selbst die sonst nicht aus der Ruhe zu bringende Rosi wird unruhig. Einen kleinen Haflinger am Zügel zu führen und unter Kontrolle zu halten ist eine Sache. Aber wenn die Muskelmaschine Rosi jetzt durchgehen sollte. Andreas, der an Rosis Paddock wacht, ist bei dem Gedanken sichtlich unwohl.

In der Zwischenzeit hat Lockenkopf eine neue Idee: er schlingt die Enden von zwei Longen an die rechte und linke Ecke des Anhängers. Dann überkreuzt er die Longen hinter Nixe und gibt die freien Enden Brigitte und Blondie. Die Idee ist ja im Prinzip nicht die schlechteste. Aber dann zerrt er wieder im Rückwärtsgang an Nixes Führstrick und Blondie zerrt mit aller Kraft, die Füße über Kreuz, eine Gerte in der Hand, an ihrer Longe, statt nur zu begrenzen. Was glaubt die, was passieren wird? Dass sie Nixe allein dadurch die Rampe hoch drücken kann?

Mit einer plötzlichen Bewegung steigt Nixe über die Longe und versucht zur Seite auszubrechen. Brigitte lässt sofort ihre Longe zu Boden gleiten und muss Blondie zweimal anbrüllen, damit die das gleiche tut und nicht Nixe ein Bein stellt oder von ihr mitgezerrt wird.



[b]Akt drei: Drei Tage Vertrauen können nicht mehrere Jahre ausgleichen[/b]

Lockenkopf hat eine neue unglaubliche Idee: Wir vier möchten doch bitte Nixe schieben und er werde ihr dann Schritt für Schritt alle vier Hufe nach vorne setzen. Steffi hat sicher schon eine Packung Zigaretten weggepafft, um wenigstens irgendein Ventil für ihre Stimmung zu haben. Sie fühlt sich für Nixe verantwortlich und die „Professionalität“ mit der Blondie und Lockenköpchen da zu Werk gehen, zerrt zusehends an ihren Nerven. Mit ihrer Berliner Schnauze fährt sie Lockenköpchen kurz aber deftig an, dass sie auf diese Weise Nixe sicher nicht verladen wird.

Ich bitte Brigitte an meiner Stelle Jack zu beruhigen. Ich kenne mich im Verladen von Pferden sicher nicht besser aus als sie, aber ich sehe ihr an, dass es nicht mehr viel braucht und sie springt Lockenköpchen ins Gesicht. Merkt der Mann eigentlich gar nichts?

Steffi scheucht Lockenkopf und Blondie beiseite, sie will ungestört versuchen, Nixe auf den Hänger zu bringen. Inzwischen regnet es kräftig, ich spüre, wie meine dünne Jacke langsam durchweicht. Hinter mir stehen die Beiden im Schutz der Äste und ich höre sie kichern. Er steht hinter ihr, steckt seine Hand in ihren Hosenbund. Wie schön, dass sich die beiden gut amüsieren.

Steffi macht ihre Sache wirklich gut. Sie geht an Nixes Seite, redet beruhigend auf sie ein. Eine Mohrrübe als Lockmittel hat sie auch zur Hand. So gut ich kann, unterstütze ich: ich öffne die Tür an der Kopfseite des Hängers, damit Nixe Licht sehen kann. Und mit einem Ruck hake ich die Trennwand in der Mitte des Hängers aus und mache Nixe mehr Platz. Dass das angeblich unmöglich ist, weil Lockenkopf die verschraubt haben will, weiß ich ja nicht. Steffi und ich versuchen es abwechselnd, stümpern uns mit unserem Halbwissen durch. Wir bleiben hinter Nixes Kopf, gehen nie gegen sie, locken mit der Mohrrübe, beruhigen sie, wenn sie versucht sich freizuschütteln, lassen aber nie zu, dass sie uns bedrängt oder wegschubst.

Immerhin, Nixe geht mit den Vorderhufen jetzt schon auf die Rampe. Aber dann ist auch bei uns Schluss.



[b]Akt vier: Falsch, falsch, falsch...[/b]

Lockenkopf will es noch einmal mit den begrenzenden Longen versuchen. Dieses Mal soll ich eine Longe nehmen, Blondie wieder die andere. Steffi soll führen und zu allem Überfluss fordert er Andreas auf Nixe am Hintern zu schieben während er selber Nixes Hufe setzen will.

Klasse, ausgerechnet Andreas, der nun wirklich nicht viel Ahnung von Pferden hat, soll hinter Nixe in Reichweite ihrer Hufe stehen. Ich bin dagegen aber Andreas ist mittlerweile ebenfalls ziemlich aufgebracht. Solange dieser Versuch auch nur eine kleine Chance darauf hat zu funktionieren, ist er bereit es zu probieren.

Nixe denkt zum Glück nicht daran, nach hinten auszukeilen. Aber wann immer Lockenkopf um sie herumläuft, um an ihre andere Seite heranzukommen, setzt sie den gerade von ihm vorwärts gesetzten Huf wieder zurück. Blöd ist sie ja auch nicht. Derweil zerrt Blondie wieder so heftig an ihrer Longe, dass sie abrutscht und Nixe von hinten in das Knie schneidet. Ich muss sie mehrmals ansprechen, bis Blondie endlich begreift.

Ich brauche eine Pause. Es ist anstrengend und meine Wut über die Inkompetenz von Lockenkopf und Blondie hilft mir nicht gerade, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, auf die sich Nixe verlassen könnte. Aber was rede ich da? Ich bin ein Fremder für Nixe. Es ist vollkommener Unsinn anzunehmen, dass sie nach diesem Heckmeck noch irgendjemandem traut.



[b]Akt fünf: Endlich Fortschritt, aber zu spät[/b]

Ich gehe zurück zu Brigitte und Jack. Die beiden haben mittlerweile eine neue Bekanntschaft gemacht, einen der Forstarbeiter. Und wie sich herausstellt, ist er derjenige, der mit den Holzrücke-Pferden hier im Ferchauer Forst arbeitet. Ruhe und Gelassenheit, genau das strahlt der Mann aus wie ein Fels.

Als ich mich mit Steffi bemüht hatte, Nixe in den Hänger zu bringen, war ich so fokusiert auf Nixe gewesen, dass ich ihn nicht bemerkt hatte. Tatsächlich hatte er sich aber da wohl schon kurz mit Lockenkopf unterhalten. Der Forstarbeiter zuckt mit den Schultern: „Wenn die mich nicht so arrogant abgefertigt hätten, hätte ich ihnen ja angeboten ihr Pferd eine Nacht bei uns im Stall am Forsthaus zu lassen, damit sie sich beruhigt. Aber so…?“ Verdammt tut das gut so etwas von jemandem Außenstehenden zu hören. So völlig falsch liegen wir mit unserem Urteil also wirklich nicht.

Uns vieren hilft der Waldarbeiter dagegen gerne helfen. Zuerst lassen wir Lockenkopf seinen Transporter beiseite und damit auf rutschfesten Boden fahren. Dann verladen wir Jack und tatsächlich – mit Hilfe des Waldarbeiters (und eines Eimers Müsli) ist der Haflinger eins-zwei-drei auf dem Anhänger. Vielleicht wird Nixe jetzt ja endlich einsteigen?

Aber es ist zu spät. Nixe hat vollkommen abgeschaltet, man sieht es an ihren Augen, ihren Ohren, ihrer ganzen Körperhaltung. So sehr sich Lockenkopf und Blondie auch bemühen, nicht einmal der Müslieimer vor der Schnauze scheint Nixe jetzt noch zu interessieren. Sie ist nur noch eine leere Hülle.

Bemerkenswert aber finde ich, dass Blondie jetzt zum ersten Mal mit Nixe redet. Sollte sie sich am Ende doch etwas bei uns abgeschaut haben?




[b]Akt sechs: Das Ende[/b]

Es reicht mir. Über zwei Stunden dauert dieses ganze Drama jetzt schon und wir sind keinen Schritt weiter. Ich stimme mich mit den anderen kurz ab und gehe dann zu Lockenkopf: „Ich sehe jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder wir fahren jetzt weiter und lassen Euch mit Nixe hier alleine. Es ist schließlich Euer Pferd in Eurer Verantwortung. Oder aber wir nehmen sie jetzt doch bis zu unserer nächsten Station mit. Soweit sind wir bereit Euch entgegenzukommen, Nixe zuliebe. Dann kann sie sich über Nacht beruhigen und ihr holt sie Morgen früh ab.“

Lockenkopf war sichtlich erleichtert. Er versprach mir in die Hand, er werde sich gleich Morgen bei uns melden. Das tat er natürlich nicht. Wir mussten dem Besitzer von Nixe hinterher telefonieren: „Könnt ihr sie nicht erst einmal da stehen lassen?“ Zu gerne hätte er seine Probleme wieder anderen aufgehalst. Erst der freundliche Hinweis von mir, dass die Tierärztin, auf deren Hof wir übernachtet hatten, sich ganz sicher kein fremdes Pferd von einem Fremden an die Backe kleben lässt, setzte ihn genug unter Druck.

Er kam nach einer Stunde Höchstselbst, mit Lockenkopf und einem großen, stämmigen Mann. Sie parkten ihren Hänger außerhalb unserer Sicht, grüßten nur kurz. „Wo ist denn das Katastrophenpferd?“ und nach einer halben Stunden war ihr Wagen ohne ein „Auf Wiedersehen!“ verschwunden.

Arme Nixe. Wir hoffen wirklich, dass sie eine gute Zukunft hat. Pferde finden ihre Strategie, selbst mit den unmöglichsten Umständen fertig zu werden. Und wenn sie wirklich als Schulpferd eingesetzt wird und nur zwei dreimal die Woche für eine Stunde ein dreißig Kilogramm schweres Mädel auf ihr herumhoppelt, dann geht es ihr ja vielleicht gar nicht so schlecht. Hoffen darf man.

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